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Starmer auf dem Boden der Tatsachen: Ein Premierminister in der Kritik

2024-09-21

Vorwürfe der Vetternwirtschaft, Sex-Affären, Boris Johnsons Corona-Partys und die luxuriöse Renovierung seiner Dienstwohnung: Als Keir Starmer noch Führer der Opposition war, konnte er es sich nicht verkneifen, den Konservativen moralische Korruption und mangelnde Integrität vorzuwerfen. Jetzt, nach zweieinhalb Monaten als Premierminister, sieht er sich selbst mit der Kontroverse rund um „Frockgate“ (Kleider-Gate) konfrontiert, während „Partygate“ vergangene Erinnerungen hervorruft.

Der Anlass für die Aufregung sind repräsentative Kleider, die ein wohlhabender Labour-Spender Starmers Ehefrau Victoria finanzierte, und die der Premierminister zu spät deklarierte. Sogar Starmer persönlich soll von Anzügen, Designer-Brillen sowie Fußball- und Konzerttickets profitiert haben, wobei die Geschenke insgesamt einen Wert von rund 100.000 Pfund erreichen. Die Boulevardpresse bezeichnete ihn als „König der Schmarotzer“ und ließ kein gutes Haar an ihm.

Ein strikter Kurs gegen Krawallmacher

Obwohl Starmer keine Gesetze gebrochen hat, zeigen sich kritische Stimmen, die ihm ein mangelndes politisches Feingefühl vorwerfen. Diese Stimmen argumentieren, dass Starmer hätte absehen müssen, dass die moralische Nulltoleranz, die er seinen Vorgängern gegenüber propagierte, von ihm selbst erwartet werden würde.

Sein beeindruckender Wahlsieg im Juli, mit dem er sich beim bevorstehenden Labour-Parteitag in Liverpool feiern kann, wird durch seine raschen Rückschläge im Amt gedämpft: In nur zehn Wochen hat er erheblich an politischem Kredit verloren.

Seine Amtszeit begann mit einer unerwarteten Herausforderung: Nach dem Mord an einem Mädchen in einer Tanzschule kam es in England und Nordirland zu ausländerfeindlichen Krawallen. Der ehemalige Staatsanwalt reagierte umgehend und setzte Maßnahmen gegen die Unruhen durch. Die Täter erlebten die volle Wucht der britischen Strafjustiz, und Starmer fand mit seinem Law-and-Order-Kurs wohlwollende Zustimmung in der Bevölkerung.

Der pragmatische Technokrat

Starmer positioniert sich nicht als Ideologe, sondern als pragmatischer Problemlöser. In der Migrationspolitik bleibt er jedoch ohne klare Antwort und zögert nicht, Inspiration bei Rechtsnationalisten wie Giorgia Meloni in Italien zu suchen, sehr zum Unmut des linken Parteiflügels seiner eigenen Partei.

In der Außen- und Sicherheitspolitik hat er nur leichte Kurskorrekturen an den konservativen Vorgängerregierungen vorgenommen. Sein Beschluss, aufgrund der Risiken von Kriegsverbrechen in Gaza den Export von Waffen nach Israel zu verbieten, stieß zwar auf Kritik, hat in der Praxis jedoch geringe Auswirkungen. Im Verhältnis zu Russland zeigt sich Starmer als unerschütterlicher Falke und könnte bereit sein, der Ukraine den Einsatz westlicher Langstreckenraketen gegen Ziele in Russland zu gestatten, im Gegensatz zu Biden, der eher zögerlich agiert.

Die EU wird zwar mit einem angekündigten Tauwetter bedacht, jedoch sind keine substantiellen Veränderungen am derzeitigen Brexit-Regime zu erwarten.

Kritik an der Innenpolitik

Auf dem Gebiet der Innenpolitik lässt Starmer kein gutes Haar an den Konservativen. „Alles ist schlimmer als gedacht“, erklärte er in einer Rede im Garten seines Amtssitzes im August. Überfüllte Gefängnisse zwingen die Regierung dazu, Häftlinge vorzeitig freizulassen. Zudem beklagt Starmer ein „schwarzes Loch“ im Staatshaushalt in Höhe von 22 Milliarden Pfund, das die Konservativen verschleiert hätten.

Mit dieser Strategie verfolgt Labour das Ziel, den Wählerinnen und Wählern das Versagen der Konservativen ins Gedächtnis zu rufen. Zudem könnte Starmer den Tories die Verantwortung für anstehende Steuererhöhungen in die Schuhe schieben, die er der Bevölkerung im Rahmen seines Haushaltsentwurfs Ende Oktober präsentieren dürfte – entgegen seiner Wahlversprechen.

Ob Starmers Strategie aufgeht, bleibt abzuwarten. Während das Haushaltsloch zu einem großen Teil auf die Versäumnisse der Konservativen zurückzuführen ist, sind auch politische Entscheidungen der Labour-Regierung, insbesondere kostspielige Lohnerhöhungen für Assistenzärzte und Bahnpersonal, nicht unerheblich.

Die umstrittenen Heizsubventionen

Ein weiterer umstrittener Schritt Starmers ist die Streichung von Heizsubventionen für Rentner, die den Staatshaushalt um 1,3 Milliarden Pfund entlasten soll. Die Regierung will diese nicht mehr flächendeckend ausschütten, sondern nur an bedürftige Senioren. Dies trifft insbesondere Rentner, die knapp über der Armutsgrenze leben, und kann im Winter zu finanziellen Schwierigkeiten führen. Laut Age UK könnten zwei Millionen Senioren aufgrund der hohen Energiekosten in Gefahr geraten.

Starmer hat diese Maßnahme gegen parteiinterne Widerstände durchgesetzt und damit Durchsetzungsvermögen bewiesen. Doch vor dem Hintergrund dieser unpopulären Entscheidung geht er strategisch ungeschickt vor. Statt die Rentner in einem größeren Sparpaket anzusprechen, gerieten nur sie selbst in den Mittelpunkt, was der konservativen Opposition und der Boulevardpresse weitere Munition liefert, die Enttäuschung der Senioren gegen Starmer zu nutzen.

Fazit

Die Meinungsumfragen spiegeln die öffentliche Unzufriedenheit wider: 46 Prozent der Bevölkerung haben mittlerweile eine negative Meinung von Starmer, das ist der höchste Wert seit 2021. Bei einer hypothetischen Wahl würde nur noch 29 Prozent der Wähler für Labour stimmen, ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum Juli mit 35 Prozent.

Doch Starmer gibt sich unbeeindruckt. Die Medienberichte und die Kritik betrachtet er als oberflächlichen Wirbel. Er macht deutlich, dass er bereit ist, unpopuläre Entscheidungen im besten Interesse des Landes zu treffen. Doch bislang hat er den Briten hauptsächlich Entbehrungen angekündigt. Nun steht er vor der dringenden Aufgabe, sie davon zu überzeugen, dass er auch Verbesserungen ihrer Lebensumstände in Aussicht stellen kann.