Ostschweizer Seenotretter: „Der emotionalste Moment meiner Einsätze“
2024-12-14
Autor: Laura
Im Oktober war Arno Tanner erneut auf einem Seenotrettungsschiff im Einsatz. Der engagierte Ostschweizer erzählte, wie es ihm nach seinem Einsatz geht und was dringend nötig ist, um die katastrophale Situation im Mittelmeer zu verbessern.
Tanner, der vor drei Jahren von einem Freiwilligeneinsatz im Flüchtlingslager auf Lesbos zurückkehrte, beschreibt die Emotionalität seiner Erlebnisse, insbesondere in der Weihnachtszeit, wenn er mit dem Elend der Flüchtenden konfrontiert wird, während die Menschen in der Schweiz feiern und über einen Überfluss an Geschenken nachdenken.
Nach seinem Abschied von einer Heilpädagogischen Schule hat Tanner 2021 beschlossen, sich der Flüchtlingshilfe zu widmen. Seine Entscheidung, seine Karriere hinter sich zu lassen, wurde durch prägende Erfahrungen im Ausland beeinflusst. Nach einem Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen engagiert er sich heute aktiv für Europe Cares und koordiniert Hilfsprojekte in der Ostschweiz.
Ende November kehrte Tanner von einem Einsatz mit Sea-Eye zurück, bei dem er über einen Monat auf hoher See Menschen vor dem Ertrinken rettete. "Ich brauche immer eine bis zwei Wochen nach einem Einsatz, um die Erlebnisse zu verarbeiten und zur Ruhe zu kommen", erklärt er. Für seine mentale Gesundheit hat er Strategien entwickelt: "Zeit mit Freunden, Sport und die Natur helfen mir sehr. Auch das Schreiben über meine Erfahrungen erleichtert mir den Umgang damit."
Ab Januar wird er ein neues medizinisches Projekt auf Kos, Griechenland, leiten. Dabei hat ihn seine umfassende Ausbildung in der Seenotrettung gut vorbereitet, die neben körperlicher Fitness auch psychologische Erste Hilfe und diverse Rettungstechniken umfasst.
Besonders prägend war ein Vorfall während seiner letzten Mission: Tanner und seine Crew wurden Zeugen, wie 22 Menschen von einem Boot ins Wasser geworfen wurden. "Unser Schiff konnte alle Personen retten", schildert er die dramatischen Ereignisse.
Ein emotionaler Höhepunkt seiner Einsätze war der Brief einer überlebenden Person, der auf Arabisch verfasst wurde. Dieser Brief, in dem der Überlebende seine Erlebnisse und Gefühle niederschrieb, berührte Tanner tief. "Ich war beeindruckt von der Stärke, die jemand aufbringen kann, um solch traumatische Erlebnisse in Worte zu fassen."
Tanner betont, dass unzählige Flüchtlinge ihre Heimat aus Verzweiflung und Verfolgung verlassen, und dass hinter den Zahlen immer Menschenleben stehen. "Niemand riskiert sein Leben, es sei denn, die Situation im Heimatland zwingt sie dazu", erklärt er und verweist auf ein Zitat der somalisch-britischen Autorin Warsan Shir.
Er kritisiert, dass die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen häufig mit den kriminellen Aktivitäten von Schleppern gleichgesetzt wird. "Das Problem ist, dass durch bewusste politische Entscheidungen die Hilfsbedürftigen gezwungen werden, gefährliche Routen zu wählen", meint er.
Die Zahlen sind alarmierend: Seit 2014 sind mehr als 30.000 Menschen im Mittelmeer verschwunden oder ertrunken, allein im Jahr 2023 rettete Sea-Eye 504 Menschen. Tanner weist darauf hin, dass geopolitische Entwicklungen, insbesondere in Syrien und Afghanistan, auch die Flüchtlingsströme beeinflussen.
Ein besonderes Glücksbringer-Armband aus Jordanien begleitete Tanner auf seinen Einsätzen, ging jedoch bei einer Rettungsaktion verloren. "Es liegt jetzt wohl irgendwo auf dem Grund des Mittelmeers", reflektiert er.
Um die Situation im Mittelmeer zu verbessern, fordert Tanner nicht nur eine sicherere Politik für Migranten, sondern auch mehr menschliche Solidarität: "Jedes Menschenleben verdient es, geschützt zu werden und in Frieden leben zu dürfen. Es braucht eine menschlichere Herangehensweise, nicht nur Zahlen und Statistiken." Tanner hofft, dass die politischen Entscheidungsträger die Notwendigkeit einer Koordination der Seenotrettung durch die EU erkennen und handeln.