
Protestwelle in der Türkei: «Wir haben nichts mehr zu verlieren»
2025-03-26
Autor: Leonardo
In der Türkei haben die Proteste in mehr als 60 Städten landesweit an Intensität gewonnen, während die Bevölkerung gegen Repressionen und soziale Ungleichheit aufbegehrt. Der Funke für diese Protestwelle war die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister von Istanbul, die viele als unrechtmäßig empfinden.
Die Proteste werden überwiegend von der Jugend angeführt, jedoch vereint die Wut der Bürger über Alters- und ideologische Grenzen hinweg. "Wir protestieren, weil wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir nichts mehr zu verlieren haben", erklärt eine junge Aktivistin.
Seit einer Woche marschieren Zehntausende auf die Straßen. Oppositionspolitiker der CHP (Republikanische Volkspartei) haben einen Boykott gegen regierungsnahe Unternehmen und Medien initiiert. Präsident Erdoğan hingegen bezeichnet die vorwiegend friedlichen Proteste als gewaltsame Bewegung und droht der Opposition mit Maßnahmen. In großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir sind die Demonstrationen verboten.
Die Lage eskaliert: Über 1100 Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums festgenommen, dazu tragen die Angriffe auf Journalisten zum allgemeinen Unmut bei. Unter den Festgenommenen ist auch ein Journalist der französischen Nachrichtenagentur AFP.
Ekrem İmamoğlu wird von vielen als Hoffnungsträger der Opposition gesehen, da er zählt zu den großen Konkurrenten von Erdoğan bei einer möglichen Präsidentschaftswahl. Die Vorwürfe gegen ihn, einschließlich der Unterstützung der PKK, scheinen politisch motiviert zu sein und werden von der Bevölkerung kritisch betrachtet.
Die Anwältin, die anonym bleiben möchte, zufolge geht es nicht nur um İmamoğlu. Es handelt sich um einen umfassenden Protest gegen das Gefühl der Ohnmacht. "Wir kämpfen nicht für einen einzelnen Politiker, sondern für unsere Würde und Zukunft", sagt sie.
Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten Jahren rasant gestiegen, während die Löhne stagnieren. "Ein einfaches Auto kann sich kaum jemand mehr leisten, und viele Studierende müssen ihr Studium abbrechen, weil sie die Mietkosten nicht mehr stemmen können", berichtet die Anwältin weiter. Trotz der schwierigen Situation möchten viele, insbesondere die Jugend, nicht aus der Türkei fliehen. "Wir kämpfen für unsere Zukunft", so eine Studentin.
Die soziale Not ist laut Experten sogar größer als während der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013. "Die Vielfalt der Protestierenden spricht für sich – von Linken über Nationalisten bis hin zu ehemaligen Erdoğan-Wählern stehen alle zusammen gegen die Ungerechtigkeiten", unterstreicht die Anwältin. Die Regierung hingegen blockiert den Zugang zu vielen öffentlichen Plätzen und sozialen Medien, was die Wut der Bevölkerung nur weiter anheizt.
Die Studentin reflektiert über die positive Wendung, die sie in dieser mobilisierten Gesellschaft sieht. "Erstmals helfen sich verschiedene Gruppen gegenseitig, singen zusammen und treten der Polizeigewalt mit einem friedlichen Protest entgegen."
Trotz der anhaltenden Repressionen sind viele entschlossen, auf die Straßen zurückzukehren. "Wir haben keine Angst mehr, denn wir haben nichts mehr zu verlieren", fasst sie das Gefühl der Protestierenden zusammen.
Obwohl eine bevorstehende Wahl offiziell erst für 2028 angesetzt ist, gibt es Hoffnungen auf frühzeitige Neuwahlen. Viele sind überzeugt, dass İmamoğlu in der Lage ist, Erdoğan ernsthaft zu gefährden. "Ob wir tatsächlich Veränderungen herbeiführen können, hängt von unserem kollektiven Willen ab. Nur zusammen können wir etwas bewegen", betont die Studentin, die auch weiterhin an den Protesten teilnimmt und an die Kraft des gemeinsamen Handelns glaubt.