Opernhaus Zürich: Ein Meisterwerk der Rebellion
2024-11-05
Autor: Leonardo
Vor sechs Jahren geschah etwas Bemerkenswertes an der Zürcher Oper. Der Regisseur Kirill Serebrennikow, der damals unter Hausarrest in Moskau stand, inszenierte Mozarts „Così fan tutte“ aus der Ferne. Während Serebrennikows Ruhm in der russischen Avantgarde wuchs, fiel sein Einfluss zusammen mit dem Comeback von Wladimir Putin in die Schusslinie des Regimes, welches vorrangig kulturfeindlich war. Serebrennikow, zusammen mit drei anderen Künstlern, wurde mit fragwürdigen Korruptionsanklagen konfrontiert und verhaftet. Aktuell, nach dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine, ist Serebrennikow in Zürich anwesend, um seine Inszenierung von Alfred Schnittkes Oper „Leben mit einem Idioten“ zu präsentieren. Eine Rückkehr in seine Heimat ist für ihn unmöglich geworden – er befürchtet, direkt am Flughafen verhaftet zu werden.
Die Oper, die in Zürich aufgeführt wird, fungiert in mehrfacher Hinsicht als Widerstandsdokument. Alfred Schnittke, ein Pionier der modernen Musik, widersetzte sich der sowjetischen Musikkultur und fand erst nach der Perestroika Anerkennung. Seine Polystilistik ermöglicht ihm, verschiedenste musikalische Stile und zeitliche Ebenen im Rahmen eines einzigen Werks zu kombinieren. Diese Mischung – vom grandiosen Tango bis hin zu teilweise verstummter Musik – spiegelt ein altes, zerbrochenes Russland wider.
Für seine Oper wählte Schnittke die Erzählung von Viktor Jerofejew aus dem Jahr 1980 als Vorlage. Jerofejew, bekannt für seine kritischen Ansichten, schloss sich mit dem Werk einer Tradition an, die das verquere Verhältnis des Staates zum Individuum thematisiert. Der Ich-Erzähler, der lediglich als „Ich“ bezeichnet wird, nimmt einen Idioten auf – was für ihn und seine Ehefrau fatale Folgen hat: Der Idiot verwüstet nicht nur ihr Zuhause, sondern hinterlässt auch eine Spur der Gewalt und Entartung.
Mit der Aufführung in Zürich wird der Idiot jedoch nicht mehr mit Lenin gleichgesetzt. Serebrennikow reinterpretiert die Handlung und verlegt sie in eine Kunstgalerie. Während der Idiot in der Oper von Matthew Newlin und Campbell Caspary dargestellt wird, erlebt das Publikum absurde und verstörende Szenen, die sich weit über die Grenzen der klassischen Oper hinausziehen. Diese kreativen Freiheiten und die Darstellung von Körperlichkeit und Identität werden durch den beeindruckenden Einsatz des Chores verstärkt, der als Kommentator und Erzähler fungiert.
Der Protagonist „Ich“, verkörpert von Bo Skovhus, durchläuft einen Schmerzprozess, der tief in sein Inneres eindringt. Die Visualisierung seiner zerbrochenen Identität berührt nicht nur die Stimmungen des Publikums, sondern thematisiert universelle menschliche Ängste. Dieses Spannungsfeld zwischen Kunst und Realität macht die Aufführung so zeitlos und relevant.
Serebrennikows Inszenierung wird als künstlerisches Manifest betrachtet. Trotz aller Herausforderungen und möglichen Rückschläge in seiner Heimat schafft es die Zürcher Aufführung, eine breite Resonanz zu erzeugen. Der Eindruck wird durch die kraftvollen Darbietungen des Ensembles und die fesselnde Musik von Schnittke verstärkt.
Am Ende der Aufführung verbindet die Inszenierung hochwertige musikalische Elemente mit sozialkritischen Aspekten – die Vorstellung einer dunklen Zukunft, die vielleicht doch Hoffnung birgt. Der eindringliche Chorgesang „Herbst“ aus Schnittkes Film „Agonie“ führt das Publikum durch einen bewegenden finalen Akt. Es bleibt zu hoffen, dass Kunst, wie im Falle Serebrennikows, auch in Zukunft als Stimme der Wahrheit und Freiheit dient.