
Grenzerfahrungen im Tessin der 1940er – hautnah am Weltkrieg
2025-03-19
Autor: Simon
Im Tessin waren die Wirren des Zweiten Weltkriegs spürbar nahe. Mussolinis faschistisches Italien war nur einen Steinwurf entfernt. Nachdem die Alliierten im Juli 1943 in Süditalien landeten, capitulierte Italien Anfang September des selben Jahres. Darauf folgte die Besetzung Norditaliens durch die deutsche Wehrmacht, und ab Mitte September standen italienische Männer im Visier der deutschen Armee für die Einberufung.
Die Nationalsozialisten begannen in Norditalien mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung. Der Krieg machte vor der Grenze nicht Halt – auch die Schweiz war betroffen. Diese Grenze, eine künstliche Linie in der Landschaft, symbolisiert sowohl Trennung als auch Vereinigung. So auch in den Lebensgeschichten von Erwin Naef, einem Grenzsoldaten, und Aline Valagin, einer Schriftstellerin.
Die beiden begegneten sich wohl nie persönlich, aber die Südgrenze der Schweiz spielte während der Kriegsjahre eine prägende Rolle in ihrem Leben. Während Erwin Naef die Grenze bewachen musste und schutzsuchende Menschen zurückweisen sollte, war Aline Valagin eine stille Beobachterin in einem Grenzdorf, in dem Schmuggler, Partisanen und Flüchtlinge Zuflucht suchten. Beide leisteten Hilfe: Naef unterstützte jüdische Familien, während Valagin vertriebenen Intellektuellen, die wie gestrandete Fremde in ihrem bescheidenen Bergdorf landeten, Unterschlupf gewährte.
Briefe von der Grenze geben einen Einblick in diese dramatischen Zeiten. Ein Set vergilbter Briefe, datiert im September 1943, verfasst von Erwin Naef, einem Oberleutnant aus Rorschach, offenbart seine innere Zerrissenheit. An seine Frau Alice schrieb er über seinen Dienst an der Grenze und seine moralischen Konflikte. Obwohl Naef tief von den Leidenschaften der menschlichen Not berührt war, befahl er, Flüchtlinge mit Waffengewalt zurückzuweisen, als er nicht die Erlaubnis erhielt, sie zu retten.
Diese Briefe wurden erst nach Naefs Tod gefunden und waren eine Sensation für Historiker. Sie boten eine bisher unbekannte Perspektive auf die Grenzsoldaten und dokumentierten nicht nur Naefs Ängste, sondern auch seine Versuche, humanitäre Hilfe zu leisten. Trotz seiner Befehle, Flüchtlinge zurückzuweisen, gelang es ihm in einigen Fällen, jüdischen Familien in die Schweiz zu helfen. Durch die Intervention des Roten Kreuzes konnten er und seine Soldaten manchmal den Bedürftigen Beistand leisten. Naefs Versuche, den Menschen beizustehen, zeugen von der Zerrissenheit, die viele Soldaten während des Krieges empfanden.
Ein weiterer Teil der Geschichte wird durch die aus dem Onsernonetal stammende Schriftstellerin Aline Valagin beleuchtet. Sie und ihr Mann kauften in den späten 1920er Jahren einen alten Palazzo, der als Zufluchtsort für Vertriebene aus ganz Europa diente. Schriftsteller wie Kurt Tucholsky fanden dort Unterschlupf. Valagins eigenes Schreiben und ihre Erzählungen geben ein neues Licht auf die Geschehnisse der Kriegszeit. In ihrem Buch „Dorf an der Grenze“ beschreibt sie eindringlich, wie Flüchtlinge und Partisanen über die Grenze gelangten, und die drangvollen und oft tragischen Umstände, unter denen Menschen Zuflucht suchten. Ihre Schilderung der jüdischen Flüchtlinge, die oft zurückgeschickt wurden, bleibt eines der ungeschönten Zeugnisse dieser dunklen Zeit.
Das Tessin, mit all seinen malerischen Bergdörfern und traumhaften Landschaften, war gleichzeitig Kulisse für eine unruhige Zeit, in der Krieg und menschliches Leid allgegenwärtig waren. Die Erlebnisse dieser Personen, sowohl im aktiven Dienst als auch im stillen Widerstand, sind ein wichtiges Zeugnis der Vergangenheit. Sie zeigen eindringlich, dass der Zweite Weltkrieg durch persönliche Geschichten und menschliche Entscheidungen geprägt war – Geschichten von Mut, Nächstenliebe und auch der schmerzhaften Realität, die das Leben an der Grenze mit sich brachte.