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Ehemaliger SEM-Chef: «Unser Asylsystem hat eine zu große Anziehungskraft»

2024-11-03

Autor: Laura

Mario Gattiker, der über ein Jahrzehnt lang als Direktor des Staatssekretariats für Migration (SEM) die Asylpolitik der Schweiz prägte, äußert sich nun erstmals zur aktuellen Situation im Schweizer Asylwesen, nachdem er Ende 2021 zurückgetreten ist.

In einem Interview mit SRF News sagte Gattiker, dass die Stimmung in der Asylpolitik angespannt sei, was er auf die aufeinanderfolgenden Krisenjahre zurückführt. Die COVID-19-Pandemie stellte besondere Herausforderungen für den Migrationsbereich dar, da Hygienemaßnahmen in den Bundesasylzentren umgesetzt werden mussten. Dieser Druck wurde durch den Krieg in der Ukraine verstärkt, der die Schweiz mit einem erheblichen Anstieg von Migranten konfrontiert hat.

Gattiker stellte fest, dass viele Menschen in den Asylstrukturen sind, die nicht schutzbedürftig sind, aber trotzdem Unterstützung benötigen, sei es aufgrund sozialer Notlagen oder medizinischer Bedürfnisse. "Es ist offensichtlich, dass es Personen gibt, die nicht in dieses System gehören", erklärte er.

Ein entscheidendes Problem sei, dass die Prüfung des Asylanspruchs erst am Ende des Verfahrens erfolgt. Dies führe dazu, dass diese Personen schon im System sind und Vollversorgung erhalten, bevor ihr Antrag überhaupt geprüft wird.

Gattiker, der als ehemaliger Asylchef eine Mitverantwortung trägt, betonte, dass die bestehenden Strukturen eine Anziehungskraft auf Menschen ausüben, die nicht in das System passen. Diese Situation sei bei der Konzeption des Asylsystems nicht ausreichend berücksichtigt worden. Ein Umdenken sei notwendig, um die Probleme anzugehen, die sich aus der aktuellen Situation ergeben.

Kürzlich hat der Bund beschlossen, gegen den Willen einiger Kantone, neun Asylzentren zu schließen. Gattiker hält es für wichtig, dass Bund und Kantone in dieser Angelegenheit besser zusammenarbeiten. Das Verhältnis zwischen diesen Ebenen sei aufgrund des hohen Asyldrucks angespannt und müsse verbessert werden. Er appelliert dafür, dass eine engere Kommunikation eine Stärke des Systems darstellt, die während der Ukraine-Krise deutlich wurde.

Als Migrationsexperte hat Gattiker in seiner langen Karriere mehrere Krisen erlebt und zieht daraus wertvolle Lehren. Er warnt davor, dass Migration Europa weiterhin beschäftigen wird, da nicht nur Konflikte an den Grenzen, sondern auch demografische Probleme und Umweltkrisen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Gattiker stellte klar: „Die Migrationspolitik kann dieses komplexe Problem nicht allein lösen, sie kann lediglich einige Beiträge leisten.

Angesichts der sich verändernden globalen Umstände ist es wichtiger denn je, dass die Schweiz ihre Asylpolitik überdenkt und sich auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Die Frage bleibt: Wird die Schweiz in der Lage sein, eine balance zwischen humanitären Verpflichtungen und nationalen Interessen zu finden?